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"Liebenswerte
Liebenswerte"
Eine Lesung
mit Oskar Pastior unter dem Motto "Mein Chlebnikov"
rezensiert von M. Wozniak
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Warum,
so fragt man sich, wird bei Oskar Pastior immer seine rumänische
Herkunft so herausgestellt? Schon lange in Deutschland lebend ist
er eigentlich einer derjenigen, der sich wenn auch nicht um eine genuin
deutsche, so doch um die Literatur an sich außerordentlich verdient
gemacht hat. Diese Bemühungen jedoch scheinen in einer weniger
an Lyrik so doch zumindest an Literatur halbwegs interessierten Öffentlichkeit
bei weitem nicht so bekannt zu sein, wie seine Herkunft, der sich
jedoch auch nur ein kleiner Teil der Literaturinteressierten bewusst
zu sein anschickt. Hier begegnet uns also der Konflikt zwischen einem
Autor, der außer- und ungewöhnliche Texte produziert, und
einem Publikum, das weniger denn seiner Herkunft ihn zu kennen vorgibt,
als tatsächlich seine Texte je gehört geschweige denn verstanden
zu haben. Und das, obwohl der Buchmarkt seit Jahren Lyrikbände
Pastiors inklusive einer CD mit den zu hörenden Texten, von ihm
selbst gelesen, anbietet. Genau das macht den Charme und die Eigenart
einer Pastiorlesung aus, dass -- für Lyrik eigentlich selbstverständlich
-- Pastiors Texte gelesen sein wollen um verstanden zu werden. |
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Wie sich also
andeutet, handelte es sich am 12. November 2003 im Koeppenhaus Greifswald
um eine Lyriklesung. Das muss dahingehend konkretisiert werden,
dass unter dem Thema "Mein Chlebnikov" Nachdichtungen
Pastiors von Texten des russischen Lyrikers Velimir Chlebnikov (1885-1922)
zum Vortrag kamen. Ohne viel Umschweife begann Pastior gleich mit
einem Text "Zum Lachen". Selbiger war im Zusammenhang
mit einer von Peter Urban geplanten Chlebnikov-Ausgabe Ende der
1960er Jahre nachgedichtet worden. Für dieses Projekt, an deren
Ende mit Beteiligung von u.a. Hans-Magnus Enzensberger, H.C. Artmann,
Franz Mon und eben auch Oskar Pastiors (Pastior beschränkte
sich auf die Nennung der Experimentierenden und des Einen; die Beteiligten
aus der DDR -- so Elke Erb, Rainer Kirsch und Peter Gosse -- blieben
unerwähnt) im Jahre 1972 die legendäre Ausgabe bei Rowohlt
stand, konnten die interessierten und freiwillig engagierten Autoren
auf übersetzungsdeskriptive Kommentare von Rosemarie Ziegler
zurückgreifen, um eben durch Informationen über grammatische
Formen des Originals der "Unmöglichkeit der 1:1-Übersetzung"
beizukommen. Dabei, so hob Pastior hervor, darf nie Chlebnikovs
Konzept der "Sternensprache" vergessen werden, das die
Silben "als lebendige Wesenheiten" versteht.
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Die
Poetologie Chlebnikovs und der "Sternensprache" ist der
Pastiors nicht unähnlich, weshalb die Affinitäten der beiden
Autoren weniger über die direkten Nachdichtungen als über
die Methoden nachvollziehbar sind. Und hier nähern wir uns dem
zweiten wichtigen Konflikt, der zwischen Autor und Publikum zu bestehen
schien und der mindestens für Lyrik Allgemeingültigkeit
besitzt. Als poetologisches Exempel dafür verlas Pastior das
"Protokoll vom L" und die "Ode an das P", welche
auch an dieser Stelle allen Lesern ans Herz gelegt werden sollen.
Es handelt sich um die "Physiognomie der einzelnen Laute",
die ja das reale Material von Dichtung jeder Art sein muss. Dieses
Material der Literatur, die alltägliche Sprache, ist kein sauberes'
oder reines' Material. Das poetologische Konzept der "Sternensprache"
erschafft also ein neues, reines Medium, ohne unverständlich
zu sein. |
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Es folgten die
Texte "Mögliche Machfragen" (mit dem M als konstituierendem
Phonem, z.B. "Möglichkeitsmögendmögende")
und "Libidonis" ("Ich eiche, ich buche, ich weide,
ich schaue"), die nochmals Chlebnikovs Technik der Komposition
von ähnlichen Lauten oder Stammsilben am Deutschen anschaulich
machten. Die Texte wurden jeweils von einer, man kann und muss sagen:
poetischen Darstellung der poetologischen Ideen begleitet. Nach
einigen Miniaturen (u.a. "Was ich hin"; "Ein Spalm")
trug Pastior für die Diskussion des Übersetzungsproblems
eine mehrfache (insgesamt gibt es wohl sieben verschiedene Nachdichtungen)
Version eines Chlebnikovtextes vor. Pastior nannte dabei die Übersetzung
"das falsche Wort für etwas, was eigentlich gar nicht
geht". Der Text von Chlebnikov heißt bei Celan "Heupferdchen",
bei Jandl "Der Grashüpfer", bei Pastior "Grashupfer"
und bei Urban "Der Heuschreck". Pastior forderte das Publikum
auf, selbst zu entscheiden. Wenn wir an dieser Stelle dieser Aufforderung
Folge leisten wollen, werden wir zugestehen müssen, dass keiner
die bessere Übersetzung geliefert haben kann. Jeder Text ist
vom Original schon soweit entfernt, dass er für sich steht
und für sich vom Geschmack des Publikums abhängig ist.
Urbans und Celans Versionen halten sich am strengsten an inhaltliche
Prämissen. Jandl (der -- warum auch immer -- Gelächter
erzeugte) und Pastior berücksichtigen jedoch keinesfalls nur
die formale Seite, sondern versuchen, das Wesen von Dichtung zu
transponieren, und dieses Wesen liegt in dem Material von Dichtung
begründet.
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Beim
fortgesetzten Verlesen der Miniaturen wurden weiterhin zentrale poetologische
Aspekte in überaus sprachvirtuoser, dadurch aber auch kryptischer
Weise zum Vortrag gebracht: "Zeitgeschön" sei ein "aus
Zeit geflochtener Text", wogegen "Feurod" als "Indikativ,
Nominierung, Beschreibung, Apell oder kategoriale Transgression"
aufzufassen sei. Die Miniatur "Erfahresen" stellt den "transitiven
Zustand intransitiven Erfahrens" und als "Partizip der Gegenwart"
das "Diaphragma einer nichteuklidischen Grammatik" dar.
Als weitere Miniaturen waren "Zwei Elefanten" und "Presse
Arbeit Reibung" zu hören. Sogleich schloss sich der Vortrag
des Poems "Lju" an, welches mit Pastiorformulierungen wie
"auf Anlieb verliebt" "nach wie vorlieb nehmend"
und "Ko- und Tugendbolten" den "sprachlichen Freiheitsrausch"
Pastiors vom Ende der 1960er Jahre dokumentiert, für den Pastior
"ohne Chlebnikov nie den Mut" aufgebracht hätte und
der letztendlich dann auch zum Krimgotischen Fächer, einem Gedichtband
Pastiors von 1972; führte. Das "Aufweichen des normativen
Denkens", das Pastior als charakteristisch für sein Schreiben
beschrieb -- und das wahrscheinlich den bestmöglichen Zugang
zu Lyrik bietet --, und die "Alchemie", die bei allem Schreiben
dabei ist, motivierten die "West-östliche Diwanfopperei"
des Krimgotischen. Der wahrscheinlich wichtigste Kommentar, der eben
auch das Rätsel der Dichtung u.a. im Sinne von Fiktion auflöst,
war sein Eingeständnis, dass das "Krimgotisch als System"
nicht funktioniert. Um so beeindruckender erklangen dann die krimgotischen
Texte, wovon das "Husch" als krimgotisches Intermezzo eine
ganze Reihe Texte dieser Art einläutete. Den Abschluss bildeten
Ausschnitte der nach dem GND-Satz entwickelten Ode an Chlebnikov "Getön
Gedröhn um den Verstand", die insgesamt sieben Kapitel umfasst
und ca. 20 Minuten Lesezeit in Anspruch nähme, und einige nachgedichtete
Chlebnikov-Palindrome unter dem Titel "Pervertiertem" (z.B.
"TONTUTNOT"). |
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Trotz lang anhaltenden
Beifalls der ca. 70 Zuhörer haben die poetologischen Kommentare
Pastiors das Publikum wahrscheinlich verfehlt. Sein Auftreten ist
immer von einer besonderen Eigenschaft begleitet, die sehr einnehmend,
jedoch nicht vereinnahmend ist. Mit diesem von jeglichen Allüren
befreiten Habitus und einer sprachlichen Charakteristik gelingt
es Pastior, schnell und langanhaltend Vergnügen und Verständnis
für seine Texte zu erzeugen. Das Verstehen will jedoch beim
Hörer sofort durch "sinnvolle" Interpretationen in
Verständnis umgewandelt werden, obwohl dieser Schritt für
Lyrik überflüssig ist. Hier wird getrennt, wo nichts zu
trennen ist. Generell, so folgern wir, versperrt die Diskrepanz
zwischen Sinn und Phonem (Klang), die ja völlig willkürlich
ist, den Blick auf die Wesenheit von Dichtung, die immer beim Phonem
beginnt. Als Leser, egal wie und wo sozialisiert, trennt man immer
noch in Form und Inhalt und bemerkt nicht einmal bei Dichtern wie
Pastior, die nicht den Formalia nachjagen, dass diese Trennung und
nicht die Texte Nonsens sind. (Schon die Wiener Schule wurde dementsprechend
falsch eingeschätzt.) Das Verständnis hatte sich längst
eingestellt -- hoffentlich wurde es von den Hörern auch verstanden.
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